Leseholz – Neun Wochen Schreibexil
(Dorit David – Unter ihren Augen – Querverlag – Roman)
Ankommen, Paket mit eigens gesendeten Sachen auspacken, hinsetzen, schreiben. So ähnlich erinnere ich mich an Tag eins, als ich aus dem Kleinbus stieg und mein Rad falsch parkte. Erster Fehler einer Quasi-Zugezogenen, denn von nun an war ich Langzeitmieterin – also irgendetwas zwischen Touri und Wochenendhausbewohnerin. Mein Domizil, die kleine Einhundert-Seelen-Gemeinde, besteht zu einem Drittel aus Berlinern. Dafür hatte ich drei Jahre gespart und sämtliche Arbeitsaufträge abgegeben.
Einen wunderbaren Sonnenuntergang im rechten Augenwinkel, betrat ich meinen Wohnsitz: ein denkmalgeschütztes Siedlerhüttchen an der einzigen Dorfstraße, die zu einem empörend schönen See führt.
Hier sollte „das Ding“ fertig werden, an dem ich über dreieinhalb Jahre gebaut hatte. Es fehlte nur noch das letzte Fünftel, das Grande Finale, der Showdown. So gerüstet kam ich also mit 311 Manuskriptseiten hier an.
Das Hier umfasste ein kleines Dorf mit freiwilliger Feuerwehr, jenen Waldsee, einen Campingplatz und unzählige Wege aus Sand, die in alle Himmelsrichtungen führten; dazu ein Netz mit ADHS beziehungsweise so großen Lücken, dass von „Netz“ schon nicht mehr die Rede sein konnte, eher von einem ausgedehnten Loch mit ein paar losen Strippen. Das wollte ich genau so. Alle notwendigen Rechercheergebnisse hatte ich in zwei Ordnern, fünf Fachbüchern, historischen Blättern oder im Laptop mit dabei. Genug zu lesen war das allemal.
Alles, was ich mir an neuem Wissen anlese und nicht binnen dreier Tage reflektiere oder verarbeitete, ist in meinem Hirn hoffnungslos verloren. Deshalb war ich also hier, ungestört von sämtlichen Ablenkungen familiärer, beruflicher oder netzwerkender Natur. Ebenso machte ich Urlaub von der Digital-Recherche. Der sonnenreiche Herbst ließ mich in Ruhe, denn gutes Wetter konnte mich nicht mehr ablenken nach dem Übermaß der letzten Monate. Ohnehin bin ich keine Sommerfreundin. Und eigentlich hoffte ich sogar auf einen frischen, kalten Herbst. See und Ofenheizung erwarteten mich, Wald und Wild vor der Tür nebst ein paar Haus- und Hoftieren.
Aber der Sommer stand und stand und stand. Er stand vor meinem Fenster, stand auf den Feldern und auf den Wegen. Das heitere Wetter kam mir irgendwann vor wie eine Staffage, als wäre im Mai tapeziert worden und im Oktober noch immer das gleiche Dekor an den Wänden. Der Sommer war vergilbt, die Wärme verstaubt und die Luft abgestanden. Das
Innenleben des Siedlerhäuschens jedoch hatte frische 16 Grad, und das war wichtig und alles, was ich brauchte: eine kühle, distanzierte Stabilität. Die Schreibarbeit ging flott voran. Sobald ich schrieb, erzählte (Spracherkennung), las oder korrigierte, hätte man mich ebenso gut wieder in Hannover an den Schreibtisch oder auf den Mond setzen können. Ich war komplett absorbiert. Keine indischen Laufenten, Hundeköpfe oder Hornissen vor meinem Fenster nahm ich wahr. Ohne Unterbrechung und bis zum Tage 55 befand ich mich während dieser Schreibarbeit in einem eigenen Film – in der Parallelwelt meiner Soap, zusammengepfercht mit all dem Personal, das sich munter vermehrte und von seiner vorgeschriebenen Linie abwich, sodass vom „letzten Fünftel“ bald nicht mehr die Rede sein konnte. Dass ich am Tag 42 meinen letzten Satz schreiben und schließlich bei Seite 512 landen würde, war mir in meiner arglosen Kurzsicht nicht klar gewesen. Meine Arbeitstage gestalteten sich immer gleich. Ich machte keine Pause am Wochenende, sodass ich irgendwann das Gefühl bekam, ich wäre in nur einem einzigen großen Tag zugange, dessen Ablauf so vonstattenging: aufstehen, drei Tassen Grüntee mit Fachliteratur und Notizen – Dauer der Tee-Lese – eine Stunde. Dann Verlassen der Hütte und ab in den See. Schließlich eine Riesentasse Kaffee, Frühstück und Arbeitsbeginn. Spätestens nach drei Stunden war ich durch vom Sitzen. Dann kam der Überlebensteil, sprich: Nahrungs-, Holz-, und Menschensuche. Entweder per Rad zehn Kilometer in die nächste Ortschaft, durch tiefe Sandwege (die sich in windigen Zeiten mehr in der Luft als auf dem Boden befanden), oder ab in den Wald. Bis zum Tag 37 wusste ich nicht, dass das hölzerne „Hand-Sträußchen“, dass ich mir täglich zusammensammelte und in zwei Fahrradkörben zum Haus und zum Trocknen transportierte, behördensprachlich „Leseholz“ heißt (in meinem Fall wohl eher „Schreibeholz“). Und da ich als kälteaffiner Mensch nur einmal bis zweimal am Tag heizte, reichte das für meinen Bedarf aus.
Dann folgte Teil 2: noch einmal zwei Stunden schreiben. Das Ende setzte mir oft meine Brustwirbelsäule, die nach Ausgleichsgymnastik schrie. „Zeichnen und Lesen gelingt nur in gepresster Gliederstellung“ – das hatte ich mir bereits am Morgen aus der Fachliteratur angelesen, aber nun spürte ich es auch. Ich gab der BWS, was sie wollte, und wieder war eine Stunde um. Schließlich bei Kerzenlicht Nahrungszufuhr, dann Public Viewing: „Himmelschreiendes Abendrot am Felde“ oder „Großer Wagen an Milchstraße“ (nur an vier Tagen gab’s nix zu sehen), und zum Müdewerden: Brief schreiben und Jim Knopf lesen. Fertig war der Tag.
Als ich schließlich die ersten dreißig Seiten hinter mir hatte, fuhr ich blauäugig mit einem USB-Stick zum Ausdrucken nach Feldberg. Bei der Post, im Copyshop oder zur Not bei der Touristeninformation würde sich sicher jemand finden, dachte ich. Fehlanzeige. Die kleine Post hatte an ihrem Kopierer keinen USB-Anschluss, ein Kopiergeschäft gab’s nicht mehr, und das „Haus des Gastes“ bedauerte aufrichtig, meinen Stick nicht einschieben zu dürfen wegen potenzieller Virusgefahr. „Wir machen das schon lange nicht mehr. Das gesamte Buchungs- und Rechnungssystem hängt an unserem Rechner“, sagte eine sehr freundliche Frau. Antivirusprogrammen traute man wohl nicht so ganz über den Weg oder hatte sie nicht. Ich verließ das „Haus des Gastes“ ohne Gastzugang. Ein Elektronikladen am Ende der kleinen Straße, kurz vor der Ausfahrt, konnte helfen. Zwei Tage später erwies sich der Ferienhütten- und Campingplatzbetreiber, vier Häuser von meinem Häuschen entfernt, als rettender Print- Engel, und kosten tat es dort nur ein Drittel von dem, was ich in Feldberg gelassen hatte. Mein Papier brachte ich selbst mit, und Bier und Brötchen bekam ich auch. „Feldberg ist also das Dorf“, sagte ich zum Campingmann, „nicht eure Hundert-Seelen-Gemeinde“. Er schmunzelte. Etliche Tage später würde er sich ein weiteres Mal als Retter in der Not erweisen.
Nach ca. sechs Wochen ging mein analoger Recherchevorrat dem Ende entgegen, und im Skript taten sich Lücken und Fragen auf, die geklärt werden mussten, wollte ich nicht all die ungelösten Dinge wieder mit nach Hannover schleppen. Dank des Passwortes meiner Nachbarin gelang es mir, mich für Sekunden- oder sogar Minutenbruchteile – meistens kurz vor Mitternacht – ins Netz einzustehlen, um ein paar Brocken Recherche zu erbeuten. Die freudige Aufregung, wenn es klappte, Funkloch-Löcher aufzuspüren, erinnerte mich stark ans Pilzesammeln.
Es gab jedoch auch ein paar befreundete Telefonjoker, die für mich googelten oder fachsimpelten, aber diese selbst erjagte Recherche fühlte sich um so vieles wertvoller an. Ähnlich wie andere Dinge, die ich in meiner „Robinsonade“ benötigte, und für deren Beschaffung ich mindestens einen halben Tag zugange war. Einen Stromausfall nebst Wassersperre, welche das Dörfchen hier hin und wieder ereilte, nahm ich hin und weiß seitdem Wasser und Strom wieder ebenso zu schätzen wie andere rare Dinge. Den tiefesten seelischen Absturz bescherte mir Tag 38. Nach Seegang und Frühstück öffnete ich frohgemut
meinen digitalen Ordner, danach mein Skript und erhielt die schonungslose Meldung, alle Zugriffsrechte verloren zu haben! Sprich: Ich sah meine Geschichte wie hinter dickem Panzerglas, konnte wie wild gegen die Scheibe klopfen, aber nichts verändern, nichts löschen und nichts bearbeiten. Das Schlimmste daran war, ich hatte null Ahnung warum. Das Netz konnte ich noch nicht fragen, und ein dunkles Gefühl sagte mir, dass es dennoch irgendwie mit dessen Abwesenheit zusammenhängen musste. Das war also der Tag, als ich meine Nachbarin aufsuchte und zum ersten Mal um den Schlüssel zum erlösenden WWW bettelte. Es nützte mir nichts, ihr Netz war zu schwach für eine Diagnose. Also machte ich mich ein zweites Mal auf zum Campingmann, der mir schon einmal den Arsch gerettet hatte. Auf dem Weg dorthin dämmerte mir langsam, dass ich gar kein Programm, sondern ein Abo gekauft hatte, was eventuell zur Lösung des Problems beitragen könnte. Vermutlich hatte ich dazumal mit den AGB des Vertrages für Microsoft Office 365 auch unterschrieben, dass ich mindestens einmal im Monat online zu gehen hätte, damit mein Schreibprogramm „Hallo hier bin ich! Mach mich neu!“ schreien, sich updaten und seine Gesichtskontrolle erhalten könnte. Der Mann am Waldrand ließ mich ohne Weiteres in seine WLAN-Welt und nickte lächelnd. Er kannte die Problematik bereits von seinem Adobe-Abo. Ich brachte ihm Whisky zum Dank.
Bevor ich in die „Eremitage“ ging, hatte ich mich intensiv mit Datenschutz befasst. Leidlich und gezwungenermaßen, wie jeder Dritte. Über meiner Weltsicht lag noch immer dieser alarmierende Filter. Nun fiel mir in dieser dünn besiedelten, analogen Welt auf, wie viele Daten wir doch, rein dadurch, dass wir leben, Fenster, Türen und Münder haben, preisgeben. Bereits am Abend des vierten Tages wurde mir bewusst, dass mindestens drei Menschen von mir erfahren hatten, dass ich kein Auto, dafür aber sehr windige Öfen besaß und zudem einen engen Briefkontakt zu irgendjemandem pflegte. Tägliche Briefkastengänge, einmal die Dorfstraße hoch und runter, blieben nicht unbemerkt. Dass ich mir weiterhin morgens
Vollkornbrötchen ohne Körner und abends Bier gönne, dass ich mit drei anderen Dörflern ein verrücktes Hobby teile, nämlich nackt eiszubaden, dass ich mit Vornamen so heiße wie der Hund von nebenan, nur mit „t“ am Ende, und dass ich eine Katzenhaarallergie habe. Das alles war nun im Dorf – ohne Netz – und für immer, und das Dorf vergisst nicht. Am Lagerfeuer der hiesigen Ortsfeuerwehr mit reichlich Bier am Abend des 53. Tages erfuhr ich im Gegenzug dann viele andere interessante Dinge, die, würde ich sie in einer Kurzgeschichte verwenden, als unglaubhaft abgestempelt würden. Aber ich halte es hier mit dem Ehrenkodex: Was am Feuer gesagt wird, bleibt im Feuer – diesem hitzigen, analogen Echoraum. Noch einen Monat – dachte ich nach dem dritten Bier, das mir irgendjemand über die Schulter nachschenkte, – noch einen Monat, und dann würde ich langsam beginnen, hier einzuwachsen. Hilfe bekam ich überall, sogar unaufgefordert. Mal ein besonderes Bier, mal mehrere Autofahrten zum Einkaufen, hier ein Bund Kräuter oder Steinpilze, da eine Saftpresse, dann den Hinweis, wo genau im Wald das Holz besonders brennfähig herumlag … Hach! Daten-Verbreitung kann so schön sein.
Am Tag 43 simste ich meinem Verlagsleiter euphorisch, dass ich seit gestern meinen letzten Satz geschrieben hätte, und bestürmte ihn, wann ich ihm denn das Manuskript senden könne. Er war gerade auf der Buchmesse mit dem Aufbau des Standes beschäftigt und simste zurück: Herzlichen Glückwunsch – Text mindestens eine Woche ruhen lassen, dann von vorne durcharbeiten. Bitte unbedingt durch das Korrekturprogramm jagen. Voll innerem Feuer folgte ich seinem Befehl und war am 55. Tage durch. Als mich schließlich die Endorphine aus ihren Klauen entließen und das merkwürdige Nachschwingen beim Schreiten wieder zum normalen Auf und Ab eines ganz gewöhnlichen Ganges geriet, wurde ich krank. Drei Stunden, nachdem ich den Stick in einem gepolsterten Umschlag durch den Postkastenschlitz geworfen hatte. Wieder einmal hatte mich die Krankheit aller Freiberufler im Griff: Immunschwäche nach Dienstschluss. Ein Tag Kopfweh und alle Höhlen zu. Ein Tag Temperatur. Ein Tag Genesung. Danach zog es mich wieder ins Wasser (Seekonvaleszenz). Vermutlich bin ich süchtig. Mein Eisbaden hatte jedoch Wirkung gezeigt, denn mein Immunsystem lief auf Hochtouren und gewann den Blitzkrieg.
Von Tag 60 bis 66 räumte ich dann die literarische Baustelle notdürftig auf. Quellenangaben sortieren, Vor- und Nachwort plus Danksagungen, ungenutztes Recherchematerial für ein eventuelles Theaterstück ordnen und katalogisieren, stichwortifizieren, einen Blogtext schreiben, das Riesenpaket für die Rücksendung packen und den Abflug samt Landung für den Kulturschock in die Metropole einleiten. Zwischendurch – am Tag 61 – war ich fünfzig geworden. Das Schreibexil war mein Geschenk an mich. Als Beigaben folgen hier nun ein paar Lieblingsbegriffe und Sätze, die mir entweder im Dorf oder in den Büchern begegneten:
- „Die Ökorinne“ (so was wie früher in der DDR das „Straßenbegleitgrün“, nur niedrig und in Buschform),
- „Samisdat“ (Ein schönes Wort, das ich vorher noch nicht kannte und das sich auf ein Papier bezog, welches ich zugespielt bekam: einen handgetippten Bericht von Konrad Wolf aus dem Jahre 1997 über den tabuisierten Faschismus in der DDR),
- und ein letztes Zitat: „… Der Liebestrieb hat in seiner Bedeutung seinen inneren Adel eingebüßt …“ aus Ausdrucksgymnastik / Rudolf Bode.Eine letzte Frage beunruhigte mich noch drei Tage vor Abfahrt: Wo werde ich nun eisbaden? Ein sofortiger Abbruch führt unter Garantie zum Kollaps mit unerträglichen Hitzeschüben und Herzkaspereien nach dem Aufwachen. Vermutlich hilft da nur noch das Ausschleichen der Droge unter einer kalten Dusche im Bad. Wie erbärmlich.