In Kürze erscheint das Hörbuch „La Madre“ bei uns.

gelesen von Natasha Hirthe, Tonmeisterin: Astrid Kohrs

Aus diesem Anlass sprach Natasha Hirthe nicht nur das Hörbuch für uns ein, sondern verfaßte auch folgenden Text, den wir Euch nicht vorenthalten möchten!

Grazia Deledda – eine Idealistin der Gegenwart Zum 150 Geburtstag der Schriftstellerin

von Natascha Hirthe

Grazia Deledda, Literatur-Nobelpreisträgerin von 1926, wurde am 27. September 1871 in Nuoro auf Sardinien geboren und feiert in diesem Jahr ihren 150. Geburtstag.
Den Nobelpreis erhielt Grazia Deledda für ihr Lebenswerk, das insgesamt 50 Romane und Erzählungen umfasst, wobei für die Zuerkennung dieser hohen Ehrung ihr Roman „La Madre“, der 1920 erschien, mit den Ausschlag gab. In der Begründungsrede des schwedischen Komitees hiess es :“ … für ihre idealistisch inspirierten Schriften, die mit plastischer Klarheit das Leben auf ihrer Heimatinsel schildern und mit Tiefe und Sympathie die menschlichen Probleme im Allgemeinen behandeln.“

Zu ihrer Zeit wurde Grazia Deledda, obwohl sie heute die wahrscheinlich berühmteste Tochter des Landes ist, von den Sarden allerdings alles andere als verehrt. Nicht etwa, weil sie sich emanzipierte und eine berühmte Schriftstellerin wurde, sondern weil sie sich „vom sicheren, allgemein anerkannten und vor allem unpersönlichen Terrain der traditionellen Geschichten auf die Ebene des Realismus begeben“ hatte (…) Die Sarden beschuldigten sie also eines unverzeihlichen Verhaltens: Sie verletzte die Regeln der Diskretion. Für die sardische Kultur, die ein natürlicher Hüter jedes Mysteriums und jedes Geheimnisses ist, begeht schon eine Frau, die ihre „häuslichen Angelegenheiten‘ auf den Seiten der nationalen Zeitungen ausbreitet, eine unverzeihliche Handlung.“
Ihr „Wille, ihre eigene Sicht auf das Vorhandene wiederzugeben, war in gewissem Sinne auch ein literarisch inakzeptabler Akt für eine Welt, die sich seit Jahrhunderten um die Feuerstellen versammelte, um zu erzählen, was nicht existiert.“ (Michela Murgia, „Elf Wege über eine Insel“,S.162 ff.,Wagenbach 2012)
Gerade das, was das Nobelpreiskomitee an der Arbeit Deleddas würdigte, nämlich ihr unverstellter klarer Blick auf die realen gesellschaftlichen Gegebenheiten, in denen sich das Individuum zu behaupten versucht, wurde von ihren Landsleuten als Angriff empfunden, da sie damit ebendiese festen gesellschaftliche Gegebenheiten in Frage stellte.

In dem Roman „La Madre“ geht es um den Zwiespalt eines Geistlichen, der sich verliebt und dadurch in Konflikt zu seinem Schwur zum Zölibat gerät.
Dies allein ist schon ein Thema, das gerade vor dem Hintergrund, daß Priester in den vergangenen Monaten ihre Ämter niederlegen müssen oder müssten, da vermehrt Missbrauchsskandale und – strukturen innerhalb von Kirchenmauern aufgedeckt werden, nach wie vor von aktueller Brisanz ist, gerade wenn man vermuten könnte, dass unterdrückte und versteckt gehaltene Sexualität in ihrer Unnatürlichkeit zwangsläufig ein Ventil in Missbrauchsszenarien finden kann.

Es geht aber in diesem Roman um sehr viel mehr, als nur um den Widerstreit zwischen sakraler und weltlicher Ordnung – es geht um das Individuum – inmitten einer von anderen festgelegten Gesellschaftsstruktur.

So befindet sich zwar der Priester Paulo zum Einen unter dem Druck der Regeln der katholischen Kirche, aber vielmehr auch unter dem Druck der Moralvorstellungen seiner Mutter. Und auch Agnes, die Frau, in die er sich verliebt hat, ist nicht frei, denn sie hat Stand und Ansehen zu verlieren, die ihre Familie seit Generationen in der Bevölkerung geniessen, sollte ihre Liebesbeziehung mit einem Priester öffentlich werden.

Für Paulo und Agnes stellt sich folgende Frage, die sie sich freilich nur unterbewusst stellen : ist es für die beiden möglich, sich in ihrer Liebe mehr zu verwurzeln, als in Kirche, Mutter und Gesellschaft ?
Wird ihre Liebe, wenn alle anderen Halt gebenden Strukturen wegfallen, die Konstante sein können, um sich im Leben zu positionieren ?
Die kindliche Prägung, die wir alle erfahren, ist wohl eine der stärksten Säulen unseres Daseins. Das, was wir in unseren ersten Jahren sehen und erfahren, wird uns für immer beeinflussen, auch wenn wir uns entscheiden sollten, unser Leben konträr gegensätzlich zu dem unserer Eltern zu leben.
Was Paulo nicht ahnt und was auch für den Leser zunächst nicht unbedingt offensichtlich ist, ist jedoch, dass die Mutter die eigentliche Revolutionärin in Grazia Deledda’s Roman ist.
Sie hat sich gegen die ihr vom Schicksal zugewiesene soziale Rolle auflehnt. Sie will nicht anonym und in Armut leben, wie als Kind und später als Witwe. Sie beginnt zu arbeiten, sie entscheidet sich für eine aussichtsreiche Laufbahn für ihren Sohn, die sie in die höchstmögliche Position heben wird, die man ohne Adelsstand oder finanzielles Vermögen erreichen kann.
Als armes Kind, hat sie seinerzeit das Dorf verlassen – als Mutter eines Heiligen kehrt sie zurück, verehrt und bejubelt von der Dorfbevölkerung.
Doch ihr wahrhaft aufrührerisches und fortschrittliches Verhalten liegt in Ihren Gedanken – denn sie hat der Liebe und Leidenschaft ihres Sohnes zu Agnes längst heimlich ihre Absolution erteilt.
Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass Grazia Deledda der Mutter den Namen Maria Maddalena gegeben hat – denn Maria Magdalena gilt unter anderm auch als Schutzheilige der Gefangenen und Verführten.
Das Problem zwischen der Mutter und Paulo ist ihre Sprachlosigkeit, der Mangel an Kommunikation. Sie sind so gefangen in der Ehrfurcht vor dem anerkannten moralischen System, in dem sie leben, dass sie sich nicht trauen, sich ihre widersprüchlichen Gefühle anzuvertrauen, und so möglicherweise Lösungsmöglichkeiten zu finden.
Der Konflikt ist schmerzlich unlösbar – entweder die Mutter, Paulo und Agnes verleugnen ihre menschlichen Bedürfnisse, um das System nicht zu beschädigen, oder sie folgen ihrer Neigung und Überzeugung und bringen damit eine althergebrachte Ordnung ins Wanken, die sie bisher gleichsam physisch und psychisch am Leben erhielt.

Inwieweit müssen gesellschaftliche Regeln für den Einzelnen bindend sein ? Inwieweit darf der Einzelne seinen eigenen Weg gehen, wenn er dies durch seine Lebensumstände als gerechtfertigt ansieht ?
Aber auch umgekehrt : Sind gesellschaftliche Regeln ein Freibrief, sich seiner Eigenverantwortung zu entledigen ? Oder sind sie sogar ein Muss, diese Eigenverantwortung zu unterdrücken ?

Wie bewahre ich mir meine Individualität, meinen eigenen Lebensstil und meine freie Entscheidung, wenn der Druck der Norm immer mehr auf dem Einzelnen lastet ?
Andererseits können gesellschaftliche Regeln einen Menschen natürlich nicht nur beschränken, sie können dem fragilen Individuum, das sich in seiner Existenz behaupten muss, auch einen gewissen Halt geben, indem es sich durch die Einhaltung eben dieser Regeln als Teil einer Gruppe fühlt.

Erich Fromm schreibt hierzu:
‚So sehr es stimmt, dass der Mensch so zu leben hat, dass er den Forderungen der Gesellschaft, in der er lebt, gerecht wird, so sehr stimmt es auch, dass die Gesellschaft so konstruiert und strukturiert sein muss, dass sie den Bedürfnissen des Menschen gerecht wird. (…)
Der Konflikt zwischen dem historischen Bedürfnis jeder Gesellschaft, den Menschen zu einem funktionierenden gesellschaftlichen Glied zu machen, und den in den Bedingungen der menschlichen Existenz liegenden menschlichen Bedürfnissen, die den Menschen in seinem Menschsein gelingen lassen, gehört zum Leben eines jeden Menschen.
( Psychische Bedürfnisse und Gesellschaft, 1956, in: Erich-Fromm- Gesamtausgabe (GA) Band XII)

Grazia Deledda’s so warmer, menschlicher, kluger und einfühlsamer Seeleneinblick in die widersprüchliche, mit sich selbst im Konflikt stehende Gefühlswelt der Figuren, in einer Geschichte, die Anfang des letzten Jahrhunderts in einem Bergdorf auf einer Insel im Mittelmeer spielt, ist heute noch so aktuell wie damals und lässt sich mühelos in unsere gegenwärtige Gesellschaft übertragen, in der die Behauptung und Individualität des Einzelnen in einer Atmosphäre von Globalisierung und nationenübergreifenden Katastrophen, immer mehr Beachtung verlangt.

Grazia Deledda, aufgewachsen in den starren sardischen Gesellschafts – strukturen des vorletzten Jahrhunderts, in einer Gemeinschaft, in der „das Schweigen“ sogar bis heute eine der grössten Zierden ist – ist mutig ihren Weg gegangen, indem sie abseits von dem, was bisher zu sagen erlaubt war, menschliche Realitäten beschrieben hat.

Sie hat mit den Mitteln ihrer virtuos sensiblen Kunst eindrücklich den Zwiespalt zwischen der Verteidigung unserer eigenen Individualität und dem Funktionieren innerhalb einer von anderen – wie auch immer – festgelegten Gemeinschaft sichtbar gemacht , in dem wir uns bis heute – und mehr denn je – befinden.

MartinaBleuler

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